Stapfer-Enquête

 

Erhebungen und Zählungen gab es bereits vor der Stapfer-Enquête von 1799, wie bereits in der Rubrik Projekt erläutert. Bekannte Umfragen, welche im 18. Jahrhundert durchgeführt wurden, sind zum Beispiel die Populationstabellen ab 1719 in Preussen und in den Jahren 1785-87 in Österreich,[1] die Berner Bevölkerungs- und Armen-Enquête von 1764[2] und die Zürcher Schulumfrage von 1771/72.[3] Einzigartig an der Stapfer-Enquête ist, dass sich die Umfrage zum Niederen Schulwesen in der Helvetischen Republik von Erziehungsminister Stapfer direkt an die Lehrpersonen wandte und somit einen neuen Zugang zur Sichtweise von Schulmeistern, Lehrerpriestern und auch (wenigen) Lehrerinnen eröffnet. Weiter ist durch den standardisierten Fragebogen eine Momentaufnahme der in der Frühneuzeit vorkommenden verschiedenen Schulformen möglich und diese können zusätzlich – durch die flächendeckende Untersuchung – auch regional in Bezug auf Konfession, Kultur, Ökonomie und Politik untersucht und verglichen werden.

 

Allgemeines
Allgemein lassen sich Entwicklungen von Umfragen im Sinne statistischer Erhebungen nach verschiedenen Kriterien, wie dem Leistungsauftrag der datensammelnden Institution, dem Organisationsgrad und der Umsetzung der Ergebnisse festlegen.[4] Nach den ersten beiden Kriterien von Pfister gehört die Stapfer-Enquête zu den protostatistischen Verfahren, weil die Erhebungen durch die Verwaltungsstellen durchgeführt wurden und es sich um eine flächendeckende Umfrage handelt und sich somit von den prästatistischen Verfahren des unsystematischen Sammelns abgrenzt. Das dritte Kriterium kann wegen der kurzen Zeitdauer der Helvetischen Republik nur ungenügend angewendet werden.

 

Fragebogen
Der Fragebogen (Deutsch / Französisch) der aus vier Teilen besteht, befasst sich im ersten Teil mit den Lokalverhältnissen. Es wird nach dem Ort der Schule gefragt, welche Häuser in welcher Entfernung dazugehören und ebenso die Entfernung zu benachbarten Schulen. Beim zweiten Teil geht es um den Unterricht. Dies beinhaltet Fragen zu den Unterrichtsfächern, aber auch zur Schuldauer, zu den Schulbüchern, den Vorschriften und der Klasseneinteilung. Der dritte Teil umfasst die Personalverhältnisse des Lehrers, wobei von der Wahl des Schulmeisters über seine persönlichen Daten bis zur Klassengrösse detaillierte Unterfragen gestellt werden. Der vierte Teil des Fragebogens befragt die ökonomischen Verhältnisse der Lehrpersonen. Dies umfasst Fragen zum "Schulfonds", dem Schulgeld, dem Schulhaus und den Quellen des Einkommens. Abgeschlossen wird der Fragebogen mit drei Anmerkungen, bei welchen die Lehrer erstens aufgefordert werden, freie Anmerkungen anzubringen und zweitens und drittens formale Hinweise, dass die Beantwortung möglichst schnell im Doppel abzugeben sei. Insgesamt enthält der Fragebogen rund 50 Fragen. Philipp Albert Stapfer bezweckte mit dieser Umfrage, seine Reformabsichten durch eine Bestandsaufnahme zu legitimieren.[5]

 

Bisherige Forschung
Bestehende Forschungsergebnisse zeigen, dass zum Beispiel im Ancien Régime dem Auswendiglernen von religiösen Texten grosses Gewicht beigemessen wurde.[6] Untersuchungen zur Berner Umfrage von 1806 machen deutlich, dass strukturgeschichtliche Rahmenbedingungen wie die Lage von Gemeinden immanenten Einfluss auf die Schulbildung ausüben.[7] Messerli betont, dass eine qualitative Verbesserung der Volksschule und eine Zunahme der Alphabetisierungsrate in den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts zu sehen sei.[8] Diese und weitere Ergebnisse können durch die Auswertung der Umfrage von Stapfer validiert, erweitert und nötigenfalls widerlegt werden. Ebenso werden neue Zugänge durch Kontextualisierungen, strukturelle Bedingungen und verschiedene methodische Vorgehen ermöglicht und somit Forschung über die traditionellen Grossthesen hinaus betrieben.[9]

 

Viele Reformen, die Philipp Albert Stapfer inszenierte, sind nicht oder zeitlich verzögert umgesetzt worden, aber trotzdem steht die Schul-Enquête in dreierlei Hinsicht für die neue Ordnung und den Wandel gegenüber dem Ancien Régime: Der Stadt-Land-Gegensatz wurde durch den Miteinbezug aller landesweiten Schulen bedacht. Der Fokus auf die Lehrpersonen verdeutlicht einerseits die Verbürgerlichung des Schulwesens und andererseits die Verschiebung des schulisch-pädagogischen Diskurses von den Geistlichen zur neu entstehenden Berufsgruppe der Lehrpersonen. Schliesslich manifestiert die zentralistisch ausgeführte Umfrage die neuen verwaltungspolitischen Strukturen der Helvetischen Republik.[10]

 

Ingrid Brühwiler

 


[1] Gerß, Wolfgang, Veränderung der räumlichen Bevölkerungsverteilung zwischen Vorhersehbarkeit und Chaos, in: Gerß, Wolfgang, Bevölkerungsentwicklung in Zeit und Raum. Datenquellen und Methoden zur quantitativen Analyse. Wiesbaden 2009, 9-73, hier: 44.

[2] Pfister, Christian, Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie: 1500 – 1800. (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 28) München 2007.

[3] Tröhler, Daniel / Schwab, Andrea (Hgg.), Volksschule im 18. Jahrhundert: die Schulumfrage auf der Züricher Landschaft in den Jahren 1771/1772. Bad Heilbrunn 2006.

[4] Pfister, Christian, Datenmaterial, Institutionen und Erhebungen. (Geschichte des Kantons Bern seit 1789, Im Strom der Modernisierung: Bevölkerung, Wirtschaft und Umwelt 1700-1914, Bd. 4), in: Digi Bern, URL: http://www.digibern.ch/GKB1789/index4t2.html, Zugriff am 20.10.2011.

[5] Rohr, Adolf, Artikel „Stapfer, Philipp Albert“, in: Historisches Lexikon der Schweiz, URL: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D9078.php, Version vom 10.10.2011.

[6] Schmidt, Heinrich Richard, Die Volksschule im Kanton Bern, in: Martig, Peter (Hg.), Berns moderne Zeit. Bern 2011, 432-443, hier: 432.

[7] Montandon, Jens, Gemeinde und Schule. Determinanten lokaler Schulwirklichkeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts anhand der bernischen Schulumfrage von 1806. (Berner Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 12) Nordhausen 2011, 287.

[8] Messerli, Alfred, Literale Normen und Alphabetisierung im 18. und 19. Jahrhundert in der Schweiz, in: Bödeker, Hans Erich und Hinrichs, Ernst (Hgg.), Alphabetisierung und Literalisierung in Deutschland in der Frühen Neuzeit. Tübingen 1999, 314.

[9] Aus dem ersten NF-Antragsentwurf an den Nationalfonds von 2006.

[10] Brühwiler, Ingrid / Fuchs, Markus, „Égalité“ an den Schulen der Helvetischen Republik? – Einblicke in die Antworten der Schul-Enquête von 1799, in: Arlettaz, Silvia / Pahud de Mortanges, Réné / Tröhler, Daniel / Würgler, Andreas / Zurbuchen, Simone, Menschenrechte und moderne Verfassung. Die Schweiz im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert / Droits de l’homme et constitution moderne. La Suisse au tournant des 18ème et 19ème siècles. Akten des Kolloquiums an der Universität Freiburg/Schweiz, 18.-20. November 2010. Genf: Edition Slatkine, 185-207.